Bharatanatyam

RA_1983_Fotoist die feine und hochentwickelte klassische Tanzkunst aus dem Bundesstaat Tamil Nadu in Südindien. Dieser Tanz entwickelte sich aus dem hinduistischen Tempel­ritual, wo der Tanz ein Medium der Gottesverehrung war, und aus dem klassischen indischen Theater, dessen Regeln im Natyasastram (einem Lehrbuch über Theaterkunst) festgelegt sind. Ehemals ein Tempeltanz geht die heutige Form dieses Tanzstiles ins 18. Jahr­hundert zurück, wo die Tanzkunst am Hofe der südindischen Maharajas eine Hochblüte erlebte. Seit dieser Zeit bis in die Gegenwart werden neue Choreographien geschaffen, die den Tanz zu einer äußerst lebendigen Kunstform machen.

Der klassische südindische Tanz ist dynamisch und präzise in seinem Rhythmus und in den Bewegungen. Shringara, die Liebe und das erotische Gefühl und Bhakti, die Hingabe an Gott, sind die zwei wichtigsten Elemente dieses Tanzes. Um diese subtilen Emotionen, gemäß der indischen Ästhetik auszudrücken, braucht die Tänzerin hohe Sensibilität, Inspiration und unaus­schöpfliche Kreativität.

Der abstrakte Teil des Tanzes

Adavu

Das Bewegungsalphabet des reinen (nicht darstellenden) Tanzes nrtta besteht aus adavus. Die Adavus sind bestimmte Bewegungsabläufe, die zu einem vorgegeben Rhythmus in langsamer, mittlerer und schneller Geschwindigkeit ausgeführt werden. Der Rhythmus wird vom Lehrer in rhythmischen Silben gesprochen und mit einem Holz­stock auf ein Holzbrett tattukarzhi geschlagen.

Das Wort Adavu leitet sich aus dem Tamilwort adu ab und heißt tanzen. Als Terminus der Tanzsprache ist es seit mehr als tausend Jahren in Gebrauch.

Die charakteristische Grundposition ist die araimandi – oder ardhamandala – Position der Beine. Hier sind die Füße nach außen gedreht und die Knie gebeugt. Die Fersen bleiben am Boden. (Vgl. demi plié im Ballett). Aus dieser Position werden fast alle Adavus ausgeführt. Bei der murumandi-Position heben sich die Fersen vom Boden ab. Man hockt mit auswärtsgedrehten Knien (grand plié).

Die Grundhaltung der Arme heißt natyarambha – Beginn des Tanzes. Hier sind die Arme waagrecht, paral­lel zum Boden, in Schulterhöhe gehalten, die Ellbogen leicht angewinkelt und die Handflächen mit gestreckten Fingern zeigen nach vorne.

Ein Adavu setzt sich aus

sthanaka Ausgangs- und Endpose
cari Bewegung
nrtta hasta Handstellung
hasta ksetra Bewegungsfeld der Hände während der Bewegung

zusammen.

Zu beachten ist die dabei die korrekte Körperhaltung – angasuddha und das Einhalten des Rhythmus – talasuddha.

Die Adavus werden in drei verschiedenen Tempi ausgeführt:

vilambita langsam
madhya mittel
druta schnell

Jedes Adavu hat eigene Silben, die es bezeichnen. Gemäß dieser Silben werden sie in Serien eingeteilt. Darüber hinaus gibt es auch Einteilungen nach Namen der Bewegungsart.

Je nach Stil, Schule und Lehrer können die Adavus und ihre Einteilungen variieren.

Der erzählerische Teil des Tanzes

Nrtya, das zu Tanzende, das heißt der Teil des Tanzes in dem die mythologischen Geschichten getanzt werden, besteht aus Abhinaya. Abhinaya bedeutet wörtlich vortragen. Man unterteilt vier Arten des Abhinaya, welche auch als Medien des Ausdruckes bezeichnet werden könnten:

1. Angika-Abhinaya Ausdruck durch Körperhaltung
2. Vacika-Abhinaya Ausdruck durch Worte
3. Aharya-Abhinaya Ausdruck durch Schmuck, Schminke und Kostüm
4. Sattvika-Abhinaya Ausdruck durch Gefühl

Das Ziel des Tanzes ist, im Zuschauer das Rasa-Erlebnis zu bewirken. Das gilt sowohl für Nrtta, den reinen Tanz, als auch für Nrtya, den erzählerischen Tanz. Im Vers Nr. 37 des Abhinayadarpana von Nandikesvara heißt es daher:

„yato hastas tato drstir yato drstis tato manah
yato manas tato bhavo yato bhavas tato rasah“

„Wo die Hände sind (sich hinbewegen), dort ist der Blick, wo der Blick ist, ist der Geist, wo der Geist ist, ist das Gefühl, wo das Gefühl ist, ist (entsteht) Rasa.“

Der Aufbau des Tanzrepertoires

  1. Mahaganapati
  2. Puspanjali und Alarippu
  3. Kautvum
  4. Jatisvaram
  5. Sabdam
  6. Varnam
  7. Padam
  8. Javali
  9. Tillana
  10. Mangalam
  11. Sloka

Die Tänzerin T. Balasaraswati verglich den Aufbau des Tanzrepertoires mit dem Aufbau des südindischen Tempels und erklärte auf diese Weise den Bezug zu Gott. Sie zog für ihren Vergleich das klassische „Alarippu-Tillana“ Repertoire heran: Der Pilger nähert sich dem Tempel, er erblickt ihn und seine Gedanken sind im Gebet auf Gott gerichtet. Der Pilger erreicht das Gopuram, den Tempelturm, durch welches er das eigentliche Tempelgelände betritt. Dies entspricht dem Tanz Alarippu. Dieser Eröffnungstanz dient der Konzentration auf Gott mit Hilfe der rhythmisch gesprochenen Silben. Der Jatisvaram entspricht dem Betreten der Ardhamandapa-Halle. Zu den rhythmi­schen Silben gesellen sich Svaras. Die Melodie wird eingeführt, man kommt dem Heiligtum näher. Nach der Ardhamandapa Halle kommt man in die Mahamandapa-Halle, die große Halle vor dem Sanctuarium. Dies entspricht dem Sabdam, es werden Wörter mit Bedeu­tungen eingeführt. Der Pilger kann nun das Sanctuarium erkennen. Im Varnam steht er vor dem Sanctuarium. Er erlebt die Gottheit mit allen Farben und sinnlichen Eindrücken. Abstrakter Tanz und Wörter mit Bedeu­tungen, Hymnen oder Lobpreisungen verschmelzen hier. Hat der Pilger das Heiligtum erreicht, so steht er nun vor der allerheiligsten Statue mit allen seinen Gedanken und Emotionen, die in den Padams zum Ausdruck kommen. Danach wird das Kampferlicht entzündet und für einen kurzen Augenblick sieht man das Gesicht der Gottheit. Dem entspricht der Tillana, einem erleuchtenden Erleb­nis. Nachdem man die Gottheit gesehen hat, nimmt man sie in sich auf und verweilt noch einige Zeit in diesen Gedanken. Das wäre einem abschließenden Sloka vergleichbar.

Die menschlichen Vorstellungen über Gott finden im erzählerischen Tanz Ausdruck, für welchen die Mythen der Götter aus der überlieferten Literatur den Inhalt bilden.Da sich aber über Gott in Wirklichkeit nicht konkretes aussagen lässt, macht verständlich, daß Balasaraswati den Tanz Tillana, der ein abstrakter Tanz ist, mit der Erleuchtung vergleicht.

Alarippu: Begrüßungstanz mit Sollukattus, ohne Text.

Jatisvaram: Reiner Tanz ohne Erzählung. Betonung auf Rhythmus und Melodie.

Sabdam: Erzählung mittels Abhinaya. Ohne Improvisation.

Varnam: Erzählung mittels Abhinaya und Impro­visation. Es wechseln reine Tanzteile mit der Erzählung ab. Höhepunkt der Vorstellung. Dieser Tanz dauert wesentlich länger als die anderen.

Padam: Ausdruckstanz in langsamen Tempo, meist ohne reine Tanzschritte. Erzählung durch Abhinaya.

Javali: Ausdrucktanz wie Padam, inhaltlich jedoch mit leichterem Charakter. Liebe als Hauptthema.

Tillana: Reiner Tanz. Betont die plastische und rhythmische Qualität des Tanzstiles. Ein graziöser und unbeschwerter Tanz mit sehr lebhaftem Rhythmus.

Mangalam: Segenbringende Verabschiedung (Tatti Kumbidal).

Studienablauf

Studiendauer bei regelmäßiger Praxis und Begabung ca. fünf bis sieben Jahre.

Phase 1:

Erlernen der Adavus und Studium theoretischer Grundbegriffe und Hastas.
Geschichte des Bharatanatyam-Tanzes, Überblick über die anderen klassischen Tanzstile Indiens.

Phase 2:

Beginn des Repertoires: Puspanjali, Alarippu, Jatis­varam, Sabdam, Kautvum.
Studium der hinduistischen Mythologie und Religion.

Phase 3:

Fortsetzung des Repertoires: Varnam, Tillana, Padams.
Studium der indischen Ästhetiklehre.

Phase 4

Einführung in Nattuvangam und Gesang, Grund­kenntnisse der südindischen Musik.

Empfehlung: Nach der 3. Phase ist ein Studienaufenthalt in Madras, in der Bharata Choodamani Schule von Adyar K. Lakshman zu empfehlen. Besichtigung der Tempel, Tanzaufführungen und Konzertbesuche, sowie das Anschaffen eines Tanzkostümes, der Fußglocken und des Schmuckes runden den Studienaufenthalt in Indien ab. Danach kann das Arangetram (Solo-Debüt) angestrebt werden.